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Homo migrans

Eine Kulturgeschichte der Migration von der Antike an, Neue Reihe Sachbuch 7

Erschienen am 20.06.2023, Auflage: 1/2023
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783737411912
Sprache: Deutsch
Umfang: 378 S., verlängertes Vorsatzpapier
Lesealter: 18-99 J.
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Entgegen der Annahme, Massenmigration wäre ein Kennzeichen der Gegenwart, wird hier herausgearbeitet, dass es Migration schon immer gab und sie wesentliches Merkmal des homo sapiens ist. Sie war und ist oft Motor des Fortschritts, des kulturellen Austauschs, des Wissenstransfers und der Verbreitung von Ideen, Techniken und Weltanschauungen. Homo Migrans unterstreicht, dass sich Migration über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg als ein in hohem Maße wiederkehrendes, zeitübergreifendes und weltweites Phänomen erweist. Damit steht nicht die Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert im Vordergrund des Buchs, sondern v. a. die vorhergehende Geschichte sowie Fragen zu den Voraussetzungen unseres gegenwärtigen Blicks auf menschliche Wanderungen. Diese Seiten- und Überblicke, die die Vor- und Frühgeschichte, das Altertum und das Mittelalter einschließen, machen die weitgreifende Perspektive zu einer - gemessen am Gegenstand - übersichtlichen Darstellung und können zu einer Neubewertung des Phänomens führen, das oft weitgehend aus neuzeitlicher oder gegenwärtiger Sicht betrachtet wird.

Autorenportrait

Alexander Rubel ist Inhaber einer Forschungsprofessur am Archäologischen Institut der Rumänischen Akademie in Jassy (Rumänien), dem er seit 2011 als Direktor vorsteht. Neben Arbeiten aus dem engeren Bereich von Archäologie und Alter Geschichte publiziert er regelmäßig zu breiteren kulturgeschichtlichen Themen. Seine Forschungsschwerpunkte sind das klassische Griechenland, antike Religionsgeschichte, Romanisierung in den Provinzen des Römischen Reiches und die Rezeption der Antike in Mittelalter und Moderne. Zuletzt im S. Marix Verlag: Per Anhalter durch die Antike, 2017.

Leseprobe

Warum wandern Menschen aus? Oder neutraler: Warum verlassen Menschen ihre Herkunftsorte? Das ist eine Kernfrage der Migrationsforschung. Wie wählen sie die Ziele ihrer Wanderung aus, welches sind die Modalitäten von Migration? Vielleicht hilft uns das als Tierfabel gestaltete Märchen Die Bremer Stadtmusikanten der Gbr. Grimm, gewisse grundlegende Muster von Migration zu entdecken und zu benennen. Zunächst zum »Warum« von Wanderung: Im Falle des Esels ist der Grund seines Aufbruchs offenbar eine wirtschaftliche Notsituation. Der Müller will ihm, da er arbeitsunfähig geworden ist (bzw. wenigstens ein »Minderleister«), die Lebensgrundlage entziehen. Er hat nun kein Auskommen mehr und entscheidet sich dazu, in Bremen als Musikant tätig zu werden. Die Migrationsforschung hat tatsächlich als wichtigstes Motiv für Migration das Verlangen von Menschen beschrieben, ihre Lebenssituation zu verbessern, das betrifft in den meisten Fällen die materiellen Bedingungen. Wenn sogar eine Notsituation vorliegt (Erwerbslosigkeit, Hunger), wie im Falle unseres Esels oder als etwa Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa, besonders in Irland, die Kartoffelfäule über mehrere Jahre hinweg für Missernten und drückende Hungersnot sorgte, dann ist der sogenannte »push-Faktor«, der Auswanderung begünstigt, besonders hoch. Von »freiwilliger Wanderung« kann man dann kaum noch sprechen. Auch klimatische Veränderungen, die in der Vorgeschichte bis zur letzten Eiszeit (im Pleistozän, Höhepunkt vor ca. 21 000-18 000 Jahren, mit dem Beginn des Holozän vor ca. 12 000 Jahren endet sie) viel abrupter und auch viel häufiger stattfanden, können solche push-Faktoren sein und haben sicher bei der Wanderung unserer urzeitlichen Vorfahren eine entscheidende Rolle gespielt. Auch wenn derartige »push-Faktoren« eine hohe Bereitschaft zur Migration generieren können, erfolgt Migration gemäß der empirischen Daten der Sozialwissenschaftler doch in aller Regel freiwillig. Ihre Entscheidungen, dazubleiben oder abzuwandern, treffen Menschen aufgrund widriger oder gar inakzeptabler Lebensbedingungen, das heißt im Bewusstsein vielfältiger durchaus sehr unterschiedlicher »push Faktoren« (Hoerder 2016). Kommt jedoch der Faktor Gewalt hinzu, spricht man von »Zwangs-« oder »Gewaltmigration«. Dieser Sachverhalt scheint im Falle des Hundes, der Katze und auch des Hahns zuzutreffen, die allesamt konkret und unmittelbar mit dem Tode bedroht wurden und sich diesem Schicksal nur durch rasche Flucht entziehen konnten. Gewaltmigration ist in historischer Perspektive am häufigsten als Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg zu beobachten, in der jüngeren Geschichte auch als Folge restriktiver Maßnahmen autoritärer Regime und der Durchsetzung von Vorstellungen ethnisch homogener Nationalstaatlichkeit durch Vertreibung von Minderheiten. Dabei kann noch weiter unterschieden werden, ob diese Zwangsmigration den Betroffenen die Möglichkeit lässt, das Ziel ihrer Wanderung - im Rahmen der situationsbedingen oft beschränkten Möglichkeiten - selbst zu bestimmen, oder ob es sich um Formen organisierter Umsiedlung oder Deportation handelt, wie etwa im Falle der auf den amerikanischen Kontinent gegen ihren Willen verbrachten afrikanischen Sklaven zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert oder bei modernem Menschenhandel. Ähnliches gilt für den »Bevölkerungstausch« (ein sehr euphemistischer Begriff) zwischen Griechenland und der Türkei (1923), der die jeweiligen Minderheiten durch Zwangsumsiedlung in die vermeintlichen »Ursprungsländer« verbrachte und somit das seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. als griechische Stadt bekannte Smyrna in die türkische Metropole Izmir verwandelte, deren griechische Vergangenheit heute nur noch durch Ruinen und die Archäologie weiterlebt (die gesamte Zwangsumsiedlung betraf etwa 1,2 Millionen Griechen und ca. 400 000 Türken). Im Falle der mit dem Tode bedrohten Möchtegernmusikanten, die sich dem Esel auf dem Weg nach Bremen anschließen, handelt es sich ziemlich offensichtlich um einen klassischen Fall von Flucht, also um das Ausweichen vor einer lebensbedrohenden

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